Ein offener Brief an die Medien

Immer wieder fühlen sich Politiker berufen, der Bevölkerung indirekt vorschreiben zu wollen, mit welchem Höchstgewicht man seiner Bürgerpflicht nachkommen darf. Und da offenbar Dicke ein willkommenes Ziel sind, wird die Nachrichtensendung mit der Schlagzeile "Die Mehrheit der Deutschen ist zu dick" eröffnet, nachdem irgendeinem Politiker in den Sinn kam, wieder einmal mehr "Übergewicht" zu thematisieren. Das Ganze wird ein Selbstläufer, denn es reicht ein Stichwort aus der Politik und in der Folge häufen sich nach dieser "erschreckenden Erkenntnis" Doku-Soaps und Talkshows, Gesundheitsmagazine und Beiträge in Boulevard-Magazinen, in denen dem geneigten Übergewichtigen anschaulich berichtet wird, welche Ernährungs- und Bewegungsfehler er ab sofort zu meiden hat, um sich von seinem Übergewicht zu befreien. Berichterstattungen, die in den unterschiedlichsten Formaten die "Volksseuche Übergewicht" anprangern und dabei direkt oder indirekt die Betroffenen für ihre Situation verantwortlich machen, tragen dazu bei, dass nicht nur unter Erwachsenen, sondern in jüngster Zeit besonders unter den Kindern und Jugendlichen Essstörungen immer häufiger an der Tagesordnung sind. Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass man so gut wie alles darf; man darf sogar in Tierexkrementen baden, um nur einen Aspekt aus der endlosen Liste der erlaubten Peinlichkeiten zu nennen. Man darf nur eines nicht: dick sein. Und anstatt dafür zu sorgen, dass gesunde Nahrungsmittel auch oder gerade für den kleinen Geldbeutel erschwinglich sind, werden die Dicken in der Gesellschaft pausenlos von Politik und Medien schikaniert. Dabei sind die Ursachen für Adipositas so komplex wie die Menschheit selbst. Angefangen von Stoffwechselstörungen, die alleine schon wieder so viele Facetten haben, dass sie nur aufzuzählen diese Seite füllen würde, bis hin zu psychischen Erkrankungen. Wären Dicke, anders als ihnen ständig vorgeworfen wird, wirklich ein wenig disziplinloser, so wären viele von ihnen nicht annähernd so dick. Es mag den meisten Politikern und Journalisten unbekannt sein, doch der "Jojo-Effekt" ist keine Erfindung hemmungsloser Dicker, die zu undiszipliniert sind, eine Diät durchzustehen. Im Gegenteil ist er das Ergebnis zahlloser Diäten. Warum die Menschen immer dicker werden? Weil Politik und Medien kolportieren, dass Dicke hässlich sind. Dass Dicke Feinde der Schönheit sind. Wenn sogar eine Renee Zellweger in ihrer Rolle als "Bridget Jones" als dick angesehen wird, eine Verona Feldbusch, die nach der Geburt ihres Kindes medizinisches Normalgewicht hatte, als "Moppel" bezeichnet wurde, wenn immer noch dicke Schauspieler nur Rollen bekommen, die von Selbsthass gegen die eigene Person triefen, müssen wir uns nicht wundern, dass immer mehr Menschen aus lauter Angst vor "Übergewicht" dubiose, krankmachende Diätformen versuchen und sich mit Appetitzüglern, Abführmitteln und Entwässerungstabletten voll stopfen, nur um nicht mehr dick zu sein. Statt die Akzeptanz Dicker in der Gesellschaft zu fördern, werden Selbsthass und Selbstzerstörung geschürt. Dass gesundheitliche Gründe gerade bei heutigen Kindern und Jugendlichen nicht notwendigerweise Auslöser für Übergewicht sind, mag stimmen. Doch die Gründe sind u.a. darin zu suchen, dass bei dem heutigen monatlichen durchschnittlich zur Verfügung stehenden Budget (Stichwort: Existenzminimum) eine gesunde Ernährung so gut wie nicht machbar ist. Das Geld reicht gerade für die nötigsten Grundnahrungsmittel, und zwar keine Vollwertprodukte. Obst und Gemüse sind nicht nur überteuert, sondern künstlich gezüchtet und gänzlich geschmacklos. Kein Wunder also, dass bedürftige Eltern diesen Dreck nicht kaufen können und wollen. Und kein Wunder, dass diesen Kindern die "gesunde Ernährung" nicht schmeckt. Eine weiterer Grund ist in der zunehmenden Lieblosigkeit, mit der Eltern ihre Kinder behandeln, zu finden. Wenn einem Kind/Jugendlichen täglich vermittelt wird, er/sie sei überflüssig, zu nichts nütze, ungeliebt, dann versuchen diese kleinen Menschen, die innere Leere, die sie verspüren, auszugleichen. Ihr Körper reagiert dann buchstäblich mit Hunger. Ein Hunger, der real ist, der diese Menschen quält, so dass sie essen müssen. Ein Hunger, der nicht da wäre, würden sie geliebt werden. Als ob der Hass in der Familie nicht reichen würde, müssen sie sich auch noch dem Spott der Mitschüler, der Gesellschaft, der Medien aussetzen. Sehr geehrte Medienschaffende, mein frommer Wunsch an Sie ist, dass Sie sich künftig besser über die Hintergründe informieren, bevor Sie weiterhin Dicke öffentlich beschimpfen und diffamieren. Wenn Witze und blöde Sprüche auf Kosten körperlich oder geistig Behinderter, einer ethnischen Gruppe, Hautfarbe oder Rasse gemacht werden, regt sich jeder zu Recht darüber auf. Warum sind jedoch Dicke für keinen noch so schlechten Witz zu schade? Ist Ihnen nicht klar, dass wir auch Menschen sind? Wir sind genauso klug, intelligent, hübsch, empfindsam, begabt wie jeder andere Mensch auch! Dralle Deern

Schade, dass ich diesen offenen Brief an die Medien nicht gelesen, oder vielleicht auch nur überlesen hatte. Er ist wirklich gut und ziemlich aggressionslos. Wie wurde er denn eigentlich an die Medien gebracht? Genützt hat er ja relativ wenig, wenn man die ganze Dickenhetze des Sommers mal Revue passieren läßt. Gab es irgendwelche Reaktionen seitens der Medien auf diesen Brief?

Es ist schade, dass dieser Brief nicht verschickt wurde. Am besten an alle Zeitungen und vor allem an jede Partei. etc. Dieser Brief sagt alles aus, ohne Wertung ohne Agression. Ich bin tief beeindruckt und das passiert nicht allzu oft :-) Großes Kompliment, klasse geschrieben.!!! lg Sesan